Im Alter selbstbestimmt wohnen
05.07.2024
Das Wohnen in den eigenen vier Wänden ist für ältere, kranke oder behinderte Menschen teilweise nur mithilfe technischer Hilfsmittel möglich. Wie der Einsatz von Kameras, Mikrofonen und Sensoren das Wohnen erleichtern kann, ohne die Privatsphäre zu beeinträchtigen, erörtern Forschende aus 44 Ländern im europäischen Forschungsnetzwerk „Good Brother“. Gemeinsam definieren sie technische, ethische, rechtliche und soziale Rahmenbedingungen für audio- und videobasierte Alltagshilfen.
Alltagstaugliche Assistenzlösungen
Rentnerin Marie lebt allein und möchte so lange wie möglich in ihrem Eigenheim in einer Kleinstadt wohnen. Doch die Zeiger der Uhr beginnen zu verschwimmen und das Telefon klingelt immer öfter ungehört. Maries Sohn Franz sorgt sich um sie, zumal seine Mutter zuletzt wiederholt bei nächtlichen Gängen zur Toilette gestürzt ist. Falls sie wieder einmal fällt, wäre er gern schnell vor Ort, um zu helfen. Um das zu ermöglichen, lässt er Kameras in Maries Wohnung installieren und bittet sie, ein Smartwatch-ähnliches Gerät am Handgelenk zu tragen.
Das System scannt rund um die Uhr die Umgebung und überwacht alle Aktivitäten und den aktuellen Gesundheitszustand der Rentnerin. Die darin verbaute künstliche Intelligenz schlägt automatisch per SMS an definierte Kontaktpersonen Alarm, sobald sie einen Sturz oder einen gesundheitsbedrohlichen Zustand erkennt. Als Begriff für derartige technologische Hilfestellungen etablierte sich Active Assisted Living (AAL). Das sind alltagstaugliche Assistenzlösungen für ein selbstbestimmtes Leben, wie es sich Rentnerin Marie im fiktiven Beispiel wünscht.
#gutzuwissen
AAL-Systeme sind alltagstaugliche Assistenzlösungen für ein selbstbestimmtes Leben. AAL steht dabei für Active Assisted Living, vormals auch für Ambient Assisted Living. Gemeint sind Konzepte, Methoden, Techniken, Produkte oder Dienstleistungen, die das alltägliche Leben alter, kranker, gebrechlicher oder behinderter Menschen unterstützen. AAL-Technologien sind auf den Menschen ausgerichtet, integrieren sich in dessen Lebensumfeld und sind an persönliche Bedürfnisse angepasst. Die komplexen Systeme basieren auf hochmodernen Technologien und dienen der Überwachung von Räumen, Gesundheitszuständen oder des Wohlbefindens von Menschen sowie zur Erkennung von Aktivitäten. Dabei kommen oftmals unterschiedliche Sensoren zum Einsatz. Die dadurch gewonnenen Daten werden mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien verarbeitet und mithilfe künstlicher Intelligenz ausgewertet.
Datensicherheit und Privatsphäre
In mehreren Dimensionen ist das beschriebene Szenario problematisch und eröffnet ein breites Feld für Diskussionen auf individueller, gesellschaftlicher und regulatorischer Ebene. Seit 2020 untersuchen daher 180 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und Länder bis September 2024 im Forschungs- und Innovationsnetzwerk „Good Brother“ die technischen, ethischen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen für audio- und videobasierte Alltagshilfen.
Die Expertinnen und Experten aus Medizin, Informatik, Sozialwissenschaft und Technik verfassen noch bis Ende des Jahres gemeinsam neben einer Open-Access-Publikation, die den aktuellen Stand der Forschung und weitere Forschungsbedarfe aufzeigt, drei Weißbücher, welche verschiedene Rahmen von AAL-Lösungen definieren: Eines richtet sich an potenzielle Anwenderinnen und Anwender, eines an politische Institutionen und eines an Technologie-Hersteller. Sie sollen bei der Entscheidung helfen, ob und welche AAL-Lösungen im eigenen Haushalt oder in Einrichtungen für betreutes Wohnen denkbar sind, welche politischen Rahmenbedingungen für eine weitere Etablierung nötig sind und was Hersteller der Technologien bei der Entwicklung beachten sollten.
Expertise aus der HTWK Leipzig
Slavisa Aleksic, Professor für Netzwerktechnologien und Netzwerkmanagement an der HTWK Leipzig, bringt im Konsortium seine Expertise zur technischen Machbarkeit verschiedener Maßnahmen ein.
Sein Fokus liegt dabei auf Ansätzen, die ein hohes Maß an Datensicherheit und Privatsphäre garantieren, auch bezeichnet als „Privacy by Design“. So können beispielsweise optische Infrarot-Kommunikationssysteme schnelle und abhörsichere Verbindungen zwischen smarten AAL-Geräten herstellen. Infrarotes Licht kann nicht durch Wände dringen; das verhindert ein Abhören außerhalb der eigenen vier Wände.
Neben dem Einsatz sicherer Datenübertragungs- und Netzwerktechnologien sind eine smarte Verarbeitung der Daten direkt in den Endgeräten, Techniken zur Verschleierung wie Silhouetten- und Skeleton-Darstellungen, Anonymisierung und Pseudonymisierung sowie wichtige Ansätze für mehr Datensicherheit und Privatsphäre.
Fluch und Segen der Kameras
Zurück zum Beispielszenario und dessen Problematik auf individueller Ebene: Marie fühlt sich durch die Kameras in ihrer eigenen Wohnung beobachtet und hat vor allem Sorge um ihre Privat- und Intimsphäre. Sie weiß nicht, wo die Daten gespeichert werden und wer darauf Zugriff hat. So geht es womöglich auch ihren Gästen. Marie befürchtet, dass nun weniger Menschen sie besuchen und sie so einsamer wird. Andererseits möchte sie gern weiterhin ihre Autonomie bewahren und ohne Unterstützung zu Hause leben können.
„Um diese beiden Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen, muss sie klare, leicht verständliche Informationen über die Technologie erhalten, die ihr das Leben zu Hause erleichtern, aber ihre Privatsphäre bis zu einem gewissen Grad beeinträchtigen kann. Die Abwägungen zwischen den beiden Werten müssen den Betroffenen deutlich gemacht werden, damit sie eine fundierte Entscheidung treffen können.“ So lautet eine erste Empfehlung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im bereits veröffentlichten Positionspapier.
„Wir sollten AAL-Technologien weder vergöttern noch verteufeln. Sie können uns großartige Erleichterungen ermöglichen, bürgen aber zeitgleich immer die potenzielle Gefahr des Missbrauchs durch Unbefugte“, verdeutlicht Aleksic das Dilemma der Entscheidungsfindung.
Daher sei eine Abwägung zwischen Risiken und Nutzen der richtige Weg – und eben diese müssen den Anwenderinnen und Anwendern vorher deutlich vermittelt werden. Am besten geeignet sei eine von den Herstellern unabhängige Beratungsinstanz, die wie eine Verbraucherzentrale Interessentinnen und Interessenten berät und im jeweiligen Anwendungsfall die passende Empfehlung ausspricht.
Zudem ist es notwendig, rechtliche und soziale Rahmenbedingungen für die Bewahrung der Privatsphäre zu schaffen und die Hersteller der AAL-Produkte und -Systeme für diese Problematik zu sensibilisieren, damit sie ihre Produkte mit Funktionen für einen effizienten Schutz der Privatsphäre ausstatten.
Solche Maßnahmen sind Voraussetzung für eine größere Akzeptanz von AAL-Systemen und damit der Entfaltung des enormen Potenzials dieser Technologien.
Deshalb fordert das Konsortium eine Gesetzgebung, welche bindend Standards für Datensicherheit und Privatsphäre für die AAL-Technologien definiert. Zudem müssen praktische Leitlinien entstehen, an denen sich sowohl Hersteller und AAL-Dienstleister als auch Anwenderinnen und Anwender bei rechtlichen Fragen orientieren können.
#gutzuwissen
Der Anteil älterer Menschen nimmt in den nächsten Jahrzehnten deutlich zu. Gleichzeitig wünschen sich die meisten Menschen, so lange wie möglich selbstbestimmt Zuhause zu wohnen. Schätzungsweise sind bis zum Jahr 2030 etwa 13 Millionen altersgerechte Wohnungen vonnöten, um den voraussichtlichen Bedarf zu decken. Im Jahr 2022 gab es nur etwa 1,2 Millionen derartiger Wohnungen. Neben stufenlosen Böden, ebenerdigen Duschen und extrabreiten Türen können auch technische Hilfsmittel die Barrieren des Alltags reduzieren. Daher sind AAL-Lösungen auch im Hinblick auf den Strukturwandel der Gesellschaft von zentraler Bedeutung.
Mögliche Lösungen und Stand der Forschung
So könnte es im fiktiven Beispiel Marie und ihrem Sohn Franz helfen, gemeinsam zu einer Beratungsstelle für AAL-Technologien zu gehen. Dort definieren sie individuelle Bedarfe und Bedürfnisse, besprechen Bedenken und Risiken und entscheiden sich dann gemeinsam für ein smartes und leistungsfähiges Kamerasystem, welches die Videosignale direkt in der Kamera verarbeitet und unkenntlich macht.
Bis ein solches Szenario eintritt, ausreichend datensichere Technologielösungen marktreif zur Auswahl stehen und sich die potenziellen Anwenderinnen und Anwender verständlich über deren Nutzen und Risiken informieren können, müssen zunächst zahlreiche Hürden abgeschafft werden.
Die Weißbücher mit den Schwerpunkten Entwicklung, Politik und Anwendung geben hierfür erste wissenschaftlich geprüfte und interdisziplinär erarbeitete Richtungsweisungen.
Dazu zählen ebenso Empfehlungen für die Wissenschaft: „Uns hat bei der Analyse der derzeitigen Publikationen zum Thema AAL-Technologien überrascht, dass bisher nur fünf Prozent der Forschungsarbeiten das Thema Privatsphäre beleuchten“, so Aleksic. Daher sei die Empfehlung an die wissenschaftliche Community, sich auf diese Aspekte vermehrt zu fokussieren. Auch gebe es zahlreiche Forschungen zur Anwendung der künstlichen Intelligenz in AAL-Technologien, jedoch nur wenige Studien, die solche Implementierungen in realen Umgebungen und konkreten Anwendungsszenarien wissenschaftlich beobachten und bewerten.
Ausblick
„Wir müssen alle Beteiligten einbeziehen und das Thema ganzheitlich betrachten, und zwar von der Grundlagenforschung bis zur praktischen Umsetzung“, so Aleksic, denn die AAL-Technologien werden von Tag zu Tag besser: Sie könnten nicht nur einen Unfall melden, sondern bereits eine Gefahr vorhersagen und somit rechtzeitig warnen. Damit das keine Utopie bleibt, bringen die Expertinnen und Experten im europäischen Forschungsnetzwerk „Good Brother“ technisch Mögliches mit rechtlich, sozial und ethisch Relevantem in Einklang.
#vorgestellt
Prof. Dr. Slavisa Aleksic (*1968) ist seit 2021 Professor für Netzwerktechnologien und Netzwerkmanagement an der Fakultät Digitale Transformation der HTWK Leipzig; zuvor war er an der Hochschule für Telekommunikation Leipzig und der Technischen Universität Wien (TU Wien) tätig.
In Sarajevo geboren, studierte, promovierte und habilitierte er an der TU Wien im Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik.
Mit Best-Paper-Awards ausgezeichnet und dank zahlreicher internationaler Forschungsprojekte bestens vernetzt, entwickelt er schwerpunktmäßig Netzwerkkonzepte, bewertet Netz-Performance und befasst sich mit der Energieeffizienz von Netzinfrastrukturen.
Sie wollen mehr zu dieser Thematik erfahren?
Kontaktieren Sie unseren Experten
oder die Autorin (Medienkontakt)
Weiterführende Informationen
- Zum Forschungsprojekt der HTWK Leipzig: Good Brother
- Zur Projektwebseite: https://goodbrother.eu/
Dieser Text erschien zuerst im Forschungsmagazin Einblicke 2024 der HTWK Leipzig. Hier können Sie das Magazin digital lesen oder kostenfrei abonnieren.